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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
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B. Emanzipation und der liberale Geist Heidelbergs (1800 bis 1918)

Jüdische Dozenten und Studenten im Großherzogtum Baden bis 1861

Das 1806 neu entstandene Großherzogtum Baden regelte die Rechtsverhältnisse der Juden durch die "Konstitutionsedikte" von 1808 und 1809. Die bisherigen Untertanen "mosaischen Glaubens" wurden zu "erbfreien Staatsbürgern" erklärt, ohne jedoch das Gemeindebürgerrecht zu erhalten, welches von dem Erwerb einer "besseren Bildung" abhängig gemacht wurde. Um die Sonderstellung der jüdischen Bürger zu beseitigen, wurde ihre korporative Gemeindeverfassung aufgehoben und ein Oberrat der badischen Juden eingesetzt. Zur Aufhebung der "Absonderung" wurde die Schulpflicht eingeführt, die Erlernung eines "bürgerlichen" Berufes vorgeschrieben, der Zugang zu allen Gewerben gestattet und die Annahme erblicher Familiennamen zur Pflicht gemacht. Der Zweck dieser Gesetzgebung war die möglichst vollständige kulturelle und soziale Angleichung der Juden an ihre christliche Umwelt; die Forderung nach der "Assimilation" stand vor der Verwirklichung der völligen Rechtsgleichheit.

Nach ihrem Übergang an Baden wurde die Universität Heidelberg von Großherzog Karl Friedrich 1803 reorganisiert. Er bestätigte sie als Landeshochschule, dotierte sie aus Landesmitteln und übertrug die oberste Leitung ("Rector Magnificentissimus") dem jeweiligen Landesfürsten. Die Neuordnung bewirkte den Aufstieg der Hochschule zur überregional bedeutenden Universität sowie die Vervierfachung der Studentenzahlen bis 1830.

Heidelberg und die Universität Göttingen immatrikulierten – nach den preußischen Universitäten – die meisten Juden im 19. Jahrhundert. Die Verleihung des Staatsbürgerrechts verstärkte das Interesse an einer akademischen Ausbildung: In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren in Heidelberg durchschnittlich 2,5 % der Immatrikulierten jüdische Studenten. Sie konnten in allen Fakultäten promovieren und auch das Staatsexamen ablegen; der Staatsdienst blieb ihnen jedoch bis in die 60er Jahre verschlossen.

Der Ausschluss von der Laufbahn des Hochschullehrers bedeutete eine starke Beschränkung der Berufsperspektiven für jüdische Akademiker. Während andere europäische Länder bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Juden zur Professur zuließen, wurde in Deutschland erst 1859 mit dem Göttinger Mathematiker Moritz Stern ein Jude Ordinarius; in Heidelberg erfolgte die erste Berufung zwei Jahre später. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war jede weitergehende Karriere als Hochschullehrer – zum Teil schon die Habilitation – mit der Taufe verbunden. Die unbesoldete Privatdozentur blieb lange Zeit die höchste für Juden erreichbare akademische Stellung. Nur zwei jüdische Privatdozenten wurden im Vormärz zu (ebenfalls unbesoldeteten) Extraordinarien ernannt; einer von ihnen war der Orientalist Gustav Weil an der Universität Heidelberg. In der Frage der Erteilung der Venia legendi ließ die Heidelberger Hochschule eine vergleichsweise liberale Haltung erkennen: Keine deutsche Universität ließ bis 1849 so viele jüdische Privatdozenten zu wie Heidelberg, nämlich sechs.

Die ersten jüdischen Dozenten

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Der erste jüdische Privatdozent: Alexander Haindorf

Der erste jüdische Ordinarius: Gustav Weil

Jüdische Studenten bis 1862

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Rechtliche Gleichstellung und akademische Integration im Kaiserreich

Im Großherzogtum Baden wurde über ein halbes Jahrhundert nach den ersten Gesetzen die rechtliche Gleichstellung der Juden 1862 abgeschlossen. Mit dem am 15. Oktober erlassenen "Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten" erhielten die jüdischen Staatsbürger auch die ihnen bis dahin vorenthaltenen Gemeindebürgerrechte. Somit war – auf dem Gebiet der Gesetzgebung – die Emanzipation in Baden vollendet; die Rechtsgleichheit auf Reichsebene wurde neun Jahre später durch die Ausdehnung des Emanzipationsgesetzes des Norddeutschen Bundes (1869) auf das ganze Reich 1871 hergestellt.

Der akademische Antisemitismus, der sich seit Ende der 70er Jahre an vielen deutschen Hochschulen unter den Professoren ausbreitete, betraf die Universität Heidelberg nicht. Ihre Anziehungskraft für jüdische Studenten und Gelehrte nahm seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ständig zu. Der Anteil der jüdischen Studierenden stieg bis auf 11 % im Jahr 1910 und lag damit mehr als viermal so hoch wie vor 1870. Die jüdischen Hochschullehrer waren mit 8 % bis 10 % im Lehrkörper vertreten, womit die Universität Heidelberg eine liberale Berufungspraxis zeigte. Die Chancen der jüdischen Habilitierten, ein Ordinariat zu erreichen, stiegen auf etwa 50 %, was eine Annäherung an die Quoten von nichtjüdischen Wissenschaftlern (ca. 65 %) bedeutete.

An der Universität Heidelberg herrschten im Kaiserreich gute Bedingungen für den Zugang und das Wirken jüdischer Hochschullehrer. In der Zeit von 1862 bis 1918 lehrten insgesamt 61 jüdische Professoren, die die ganze Fächerbreite vertraten. Vor allem die Fächer Mathematik, Chemie, die Sprach- und Literaturwissenschaften sowie die Nationalökonomie fanden – neben den traditionellen Studien- und Lehrfächern Medizin und Jurisprudenz – das besondere Interesse der jüdischen Wissenschaftler. Jeweils 18 Professoren gehörten in diesem Zeitraum zur Philosophischen und Medizinischen Fakultät, 16 zur Naturwissenschaftlich-Mathematischen sowie 9 zur Juristischen Fakultät.

Seit 1890 erlebte die Universität Heidelberg eine Zeit der wissenschaftlichen Blüte. In allen Fakultäten lehrten berühmte Wissenschaftler, die die Anziehungskraftder Universität steigerten. Der "Heidelberger Geist", vertreten durch Gelehrte wie Max Weber und Friedrich Gundolf, den Schüler Stefan Georges, kennzeichnete die Hochschule, die als "liberale Musteruniversität" einen überregionalen Ruf genoss. Auch in der Weimarer Republik setzte Heidelberg seine liberale Tradition fort und erhielt seine Anziehungskraft für jüdische Studenten und Wissenschaftler.

Die Öffnung der Wissenschaften für jüdische Professoren: Geisteswissenschaften

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Die Öffnung der Wissenschaften für jüdische Professoren: Naturwissenschaften

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Anziehung auf Osteuropa und Ausstrahlung nach Palästina: Studenten (I)

Besonders attraktiv wirkte die Universität Heidelberg auf jüdische Studenten aus Russland, die in ihrer Heimat restriktiven Zulassungsbeschränkungen unterworfen waren. Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs gab es eine große Gruppe von russischen – überwiegend jüdischen – Studenten in Heidelberg, die eine "Kolonie" mit eigenen kulturellen Einrichtungen, z. B. einer Lesehalle, bildeten. Obwohl der studentische Antisemitismus zunahm und sich insbesondere gegen die russisch-jüdischen Kommilitonen richtete, stieg die Zahl der Studenten aus Russland an. Ein Teil von ihnen begründete die nationaljüdische Bewegung, die in Heidelberg auch von deutschen jüdischen Studenten unterstützt wurde. Durch ihr politisches Engagement übernahmen ehemalige Heidelberger Studenten eine wichtige Funktion bei der Verwirklichung der zionistischen Idee.

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Anziehung auf Osteuropa und Ausstrahlung nach Palästina: Studenten (II)

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Ein neo-orthodoxer Rabbiner und die ersten Frauen an der Universität: Studenten (III)

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Jüdische Studentenverbindungen im Kaiserreich

Die aus den früheren Landsmannschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Burschenschaften bildeten nach 1871 einen einheitlichen Typus aus: die farbentragende Verbindung mit dem Prinzip der Satisfaktion und der Mensur. Im Kaiserreich wurde das progressive und liberale Erbe der Burschenschaften zu einer konservativen und exklusiven Grundüberzeugung mit völkisch-nationalistischen, antisemitischen und hierarchisch-autoritären Elementen. Der soziale Wert der Verbindungsmitgliedschaft war so hoch, dass um die Jahrhundertwende fast die Hälfte aller Studenten korporiert war.

Als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus der studentischen Verbindungen und die Gründung des antisemitischen Vereins Deutscher Studenten (1881) sowie die Verweigerung der Satisfaktionsfähigkeit begannen die jüdischen Studenten mit der Bildung eigener Verbindungen. Da auch die konfessionsgebundenen Verbindungen keine jüdischen Kommilitonen aufnahmen, gründeten diese seit 1886 "jüdisch-deutsche" oder zionistisch ausgerichtete Vereinigungen, die je nach Zielsetzung den Kampf gegen den Antisemitismus in Deutschland oder die Beförderung der nationaljüdischen Idee beabsichtigten. Bis 1896 wurden in fünf Universitätsstädten, darunter Heidelberg, exklusiv-jüdische Verbindungen gegründet, die sich zum Kartell-Convent deutscher Studenten jüdischen Glaubens zusammenschlossen. Zionistisch orientierte Vereine und Korporationen entstanden seit 1895 an den deutschen Universitäten. Auch sie bildeten 1914 einen Dachverband, das Kartell Jüdischer Verbindungen.

Das selbstbewusste Eigenleben der jüdischen Studentenverbindungen beinhaltete jedoch nicht die Abgrenzung von den Gebräuchen der nichtjüdischen Kommilitonen. Die integralen Bestandteile des Verbindungslebens wie das Tragen von Couleur, die rituelle Geselligkeit und demonstrative Wehrhaftigkeit wurden übernommen und gepflegt.

In Heidelberg gab es ein vielfältiges organisiertes jüdisches Studentenleben. Neben den drei großen Verbindungen Badenia (bis 1902), Bavaria (1902–1933) und Ivria (1911–1933) bestanden zahlreiche kleinere und kürzer existierende Zusammenschlüsse. Im Sommersemester 1913 stellten die drei jüdischen Verbindungen Bavaria, Ivria und Nicaria (1902–1933) 9,5 % aller Inkorporierten.

Eine sogenannte paritätische Verbindung, die Studenten aller Konfessionen aufnahm, war die 1892 gegründete Freie Wissenschaftliche Vereinigung. Ihre moderne Organisation und Offenheit bot eine Alternative zu den exklusiv-jüdischen Verbindungen und zog eine größere Zahl von Studierenden an. Da die Aktivitas in der Mehrzahl aus jüdischen Studenten bestand, wurde die Freie Wissenschaftliche Vereinigung 1933 von den Nationalsozialisten aufgelöst.

Jüdische Studenten: Zahlen und Organisationen

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