Liebeslieder aus dem Codex Manesse
Heinrich von Morungen
Heinrich von Morungen gilt als einer der Klassiker der mittelhochdeutschen Lyrik. Der Sänger stammte aus einem thüringischen Geschlecht und verbrachte seine letzten Lebensjahre im Leipziger Thomaskloster. Als Entstehungszeit seiner Minnelieder wird die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vermutet.
Viele Strophen Heinrichs von Morungen haben sich ausschließlich im Codex Manesse erhalten. Im Klagelied des Sängers erscheint der Dienst des Liebenden für die unnahbare Dame als ewiges Band: Sogar über den Tod hinaus werde seine minnende Seele ihre „Mörderin” wie eine Heilige anbeten.
Vil süeziu senftiu toeterinne (Bl. 81r)
Vil süeziu senftiu toeterinne,
war umbe welt ir toeten mir den lîp,
und ich iuch sô herzeclîchen minne,
zwâre vrouwe, vür elliu wîp?
Waenent ir, ob ir mich toetet,
daz ich iuch iemer mêr beschouwe?
nein, iuwer minne hât mich des ernoetet,
daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe.
sol mir hie niht guot geschehen
von iuwerm werden lîbe,
sô muoz mîn sêle iu des verjehen,
dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe.
Süßeste, sanfte Mörderin,
warum wollt Ihr mich töten,
der ich Euch doch aus ganzem Herzen liebe,
wahrhaftig, Herrin, mehr als alle Frauen?
Glaubt Ihr, wenn Ihr mich tötet,
dass ich Euch niemals mehr ansehe?
Nein, Eure Liebe hat mich dahin gebracht,
dass Eure Seele die Herrin meiner Seele ist.
Wenn mir Gutes nicht hier zuteil wird
von Euch, herrliche Frau,
dann bekennt Euch meine Seele,
dass sie Eurer Seele dort einst dienen wird wie einer Heiligen.