BuchDruck – Wandel mit Holzblock und Letter
Geisterwesen und Tabubruch
Thema der seit dem Hochmittelalter verbreiteten Legende von „Melusine“ ist die Verbindung eines Menschen mit einem übernatürlichen, der Geisterwelt angehörenden Wesen, die an einem Tabubruch scheitert. Der Berner Autor Thüring von Ringoltingen verfasste 1456 eine deutschsprachige Version.
Melusine bietet Reymond, der bei einem Jagdunfall versehentlich einen Verwandten getötet hatte, ihre Hilfe an – unter der Bedingung, dass er sie zur Frau nimmt, ihr dabei aber zusichert, sie nie an einem Samstag zu sehen oder nach ihr zu suchen.
Der vorliegende Holzschnitt illustriert die Szene, in der Reymond sein Versprechen bricht, und damit den Wendepunkt der Geschichte: Von seinem Bruder angestachelt, sucht er eines Samstags nach Melusine, findet sie beim Baden und entdeckt, dass sie sich vom Nabel ab in einen Drachen verwandelt hat. Die den Textabschnitt einleitende Holzschnittinitiale, in der ein Drache sich in den Buchstaben „R“ einschmiegt, korrespondiert mit dem dargestellten Inhalt.
Der Melusinestoff ist in illuminierten Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucken bis hin zu den erfolgreichen Volksbuchausgaben ab dem 16. Jahrhundert verbreitet. Als Heinrich Knoblochtzer die Geschichte um 1481/83 abdruckt, ist dies für ihn nicht das erste Mal: Die 67 Holzschnittdarstellungen, die den Text illustrieren, hatte er bereits in den um 1477 erschienenen Vorgängerversionen verwendet. Deren Vorlagen wiederum finden sich in einem der ersten Melusine-Drucke, den um 1473/74 Bernhard Richel in Basel wohl unter Rückgriff auf eine illuminierte Handschrift besorgt hatte.
II.15
Thüring von Ringoltingen: Von einer frowen genant Melusina, [Straßburg: Heinrich Knoblochtzer, um 1481/83] (GW 12661)
Papier, 64 Bll., 67 Holzschnitte
WLB Stuttgart, Inc. fol. 11061 b (HB), Bl. e1a