Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 34,2.1921

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1921)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Zu Tagores sechzigstem Geburtstag
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14433#0154

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zu Tagores sechzigstem Geburtstag

ls Tagore vor einigen Iahren den Nobelpreis erhielt, wußten wir,

offen zu reden, nichts von ihm. Wer nicht zusällig in englischer
"^^Sprache eines seiner Bücher gelesen hatte oder Neu-Indologe war,
konnte auch gar nichts von ihm wissen. Ist doch die Aufmerksamkeit Deutsch--
lands für das, was England aus den ferneren Ländern seines Herrschbereichs
sich an literarischen Werten holt, seit langer Zeit ebenso gering wie sein
Interesse für das englische und amerikanische Schristtum selbst. Nicht
einmal davon hatten wir einen rechten Begriff, daß in der bengalischen
tzeimat Tagores überhaupt so etwas wie ein Boden für Dichtung, Philo--
sophie, Geistigkeit neueren Stils vorhanden sei. tzeute würden wir es
wissen, auch wenn nicht inzwischen Bücher erschienen wären, die davon
berichten. Denn Tagores eigenes Werk beweist es. Wer einen Funken
von Gefühl für die Lebensbedingungen geistiger Werte hat, fühlt vor
seinen Schriften sofort, daß sie nicht aus dem Nrwald oder aus den noch
so reichen Tiefen eines Vereinzelten stammen, sondern aus einer Äber--
lieferung und einer literarischen Atmosphäre von Gehalt, mögen sie
auch selber weit über beide hinausragen. Es ist schlechthin „hohs Kultur"
im ernstesten Sinn, die sie bezeugen, eine Kultur, der wir mit mindestens
so viel Achtung zu begegnen haben, wie unserer eigenen. Wir kennen sie
nicht, aber wir wissen, daß sie da ist. Doch nicht um ihretwillen ge-
denken wir, schon zum zweiten Male in tzalbjahrsfrist, Tagores. Auch
andere Werke bezeugen uns ferne Kulturen, beispielsweise die Schriften
des verehrungwürdigen Ku-tzung-Ming, die Lefcadio Hearns. Tagore
steht uns heute näher. Gewiß, ganz ist er wohl nur zu „verstehen" aus
den Voraussetzungen seines Werdens und Schaffens heraus.* Aber er
ist ganz über diese Voraussetzungen hinausgewachsen, in seinem stärksten
Schaffen losgelöst von allem Zeitlichen, wie alle Großen der Weltliteratur.
Und ist damit so sehr „unser" geworden wie Gerhart Hauptmann, Selma
Lagerlös oder Antonio Fogazzaro.

Mau weiß heute viel über sein Leben,- es ging wie das so vieler durch
Dunkelheiten dem Licht entgegen. Kraft einer starken und reichen Anlage
rang er sich unangekränkelt, ungebrochen, unversehrt empor. Wer hätte
es 'bezweifelt, wenn er auch nur „Das Heim und die Welt" gelesen
hätte. Der diese Gestalt, diesen Mann von reiner Innerlichkeit und
unangreifbarer Festigkeit gestalten konnte, wie er sein „Heim" und die
ewige Geltung seines Ethos gegen die stärksten äußeren und die bittersten
inneren Angriffe wahrt, der ist wohl mit dem Charisma hoher Naturen
in den Wettkamps eingetreten. Auch dies haben wir erst in den letzten Iahren
gewahren können. Zuerst übersetzte man uns seine Gedichte — „Der Gärt-
ner", „Gitanjali". Es heißt, diese Äbersetzungen gäben wenig vom Zauber
des Originals. Möglich. Aber voll Melodie, voll Innerlichkeit und sanftem
Zauber waren sie dennoch. Voll einer Innerlichkeit, die uns sogleich ganz
und gar nahe war; denn es war die Innerlichkeit des reinen Menschen,
wie sie auch die uns teuersten Dichtungen belebt; es wäre gar nicht sinnlos,
an Mörike zu erinnern zum Vergleich. Ein Auge, ein Ohr, ein unsäglich
feiner Sinn für die Natur, eine spielende Phantasie, ein gütiges Verstehen

* Von denen das breite, aber auch inhaltreiche Buch L. Engelhardts
einige Kenntnis gibt, das im Fnrche-Verlag in Berlin erschienen ist und gern
empfohlen sei.
 
Annotationen