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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 64.1929

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Hausenstein, Wilhelm: Münchens künstlerische Zukunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.9254#0287

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MÜNCHENS KÜNSTLERISCHE ZUKUNFT

VON DR. WILHELM HAUSENSTECN

Die Zahl der Einheimischen und Auswär-
tigen, die den Rückgang der künstlerischen
Verhältnisse in München nicht sehen und be-
flissen — ebenso beflissen wie blind — abstrei-
ten, wird von Tag zu Tag kleiner. In Unterhal-
tungen, privaten und öffentlichen, in der Presse
mehren sich die Bedenken; wenn man im Kultus-
ministerium ahnte, wie heute sogar die überzeug-
testen, treuesten Münchner unter vier, sechs,
auch mehr Augen reden, so würde man wahr-
scheinlich eine geringere Gelassenheit zur Schau
tragen. Die Dinge sind sogar dahin gekommen,
daß auch Menschen, die München aus der Mitte
ihres Herzens lieben und an München auch
weiterhin leidenschaltlich glauben möchten, an-
gefangen haben, zu meinen: München gehe zu-
rück — aber dies sei ein „Schicksal", und
man könne dagegen wahrscheinlich so wenig
etwas machen wie gegen ein „Naturgesetz".

Nun möchte ich allerdings diesen schicksals-
gläubig Verzweifelnden das Wort gerade nicht
reden; ich möchte ihnen widersprechen. Das
Wort vom „Schicksal", vom „Naturgesetz"
überzeugt mich noch immer nicht. Es ist dem
Menschen nicht erlaubt, sich einfach auf das
Schicksal zu berufen: es ist ihm deshalb nicht
erlaubt, weil er Schicksal im voraus garnicht
bemessen kann. Auch Aberglaube an die „Ent-
wicklung" ist unsinnig, ob er nun optimistisch
oder pessimistisch ist. Den Menschen ist ein
beträchtlicher Spielraum gegeben; unsere
Freiheit ist größer, als unsere Trägheit
wahrhaben will; in den seltensten Augenblicken
nur ist es uns wirklich versagt, zu handeln.
Und ich glaube nicht, daß hier, in München,
der Augenblick gekommen sei, der es uns end-
gültig verbiete, zu handeln! Ich glaube viel-
mehr, daß diese wunderschöne Stadt durch
eine tätige Kulturpolitik noch immer zu
erhalten und einer zwar nicht überschweng-
lichen, aber schönen, eigentümlich-bedeutsamen
und angenehmen künstlerischen Zukunft ent-
gegenzuführen ist. Es kommt hier wahrhaftig
immer noch einzig auf die Menschen an, die
steuern. Man hört gerade hier, in München,
immer öfter sagen: es sei nun eben so; Berlin
„mache das Rennen" ; die Entwicklung nehme
hierzulande eben „naturnotwendig" den näm-
lichen Weg, wie in Frankreich; Berlin werde
das deutsche Paris.

Abgesehen davon, daß es mehr als zweifel-
haft ist, ob Berlin nach seiner Herkunft und
Beschaffenheit Talent hat, ein Paris zu werden:

es ist lähmend und unsinnig, immer wieder die
„Entwicklung" und die „Naturnotwendigkei-
ten" zu berufen — einfach deshalb, weil das
Menschliche mehr ist als nur ein Boden für
Naturnotwendigkeiten; einfach deshalb, weil
das Menschliche in viel höberem Grade, als wir
selbst einsehen wollen, selbst unter schwierigen
wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen,
der Boden der geistigen Freiheit ist. Es
kommt hinzu: mit jenen Ähnlichkeiten zu ar-
beiten, die man „historische Analogien"
nennt, ist eine recht faule Sache. Wenn Frank-
reich in Paris zentralisiert ist, so ist damit für
Deutschland nämlich beinahe noch gar nichts
bewiesen — auch dann nicht, wenn man zu-
gibt, daß es im Ablauf der Dinge einen gewis-
sen europäischen Rhythmus gibt.

Möglich, daß man eines Tages feststellen
wird, München, ein schönes Standbild, sei von
einem schönen Sockel gestürzt. Möglich
aber auch das Gegenteil: daß München
auf diesem Sockel sich neu emporrichtet.
Wir stehen auf dem Boden der Möglichkei-
ten; so ist es noch immer — auch heute noch,
in einem Augenblick, der zu allerlei Verzweif-
lung Anlaß gibt. Auf dem Boden der Möglich-
keiten gibt es aber auch noch Wege für eine
neue Initiative und für eine bessere Zukunft.
Es kommt noch immer auf die Handlung an,
auf die Tat, auf den Geist der Unternehmung,
auf den Versuch — und also auf den Mut
und auf die Einsicht der leitenden Per-
sonen. Dies allerdings ist nun unser Bedenken:
am Hebel suchen wir vergeblich nach überlege-
nen Persönlichkeiten.

Kein Zweifel: es gibt in Deutschland den
Vorgang einer gewissen Provinzialisierung aller
Verhältnisse, die nicht „Berlin" heißen. Ge-
nauer: es gibt die Tendenz zu solcher Pro-
vinzialisierung; die Geschichte selbst scheint
dahin zu neigen. Aber nicht s o sehr, daß es
uns benommen wäre, diesen Vorgang zum aller-
mindesten zu „relativieren" — das heißt: ihm
seine Ausschließlichkeit zu nehmen und gerade
von München her das Beispiel eines guten
„Kontraposts" zu geben, eines Gegenrhythmus,
einer ausgleichenden und bereichernden Ge-
genbewegung. Die geschichtlichen und land-
schaftlichen Voraussetzungen Münchens, seine
natürlichen und kulturellen Vorzüge
sind so einzigartig, daß wir hier, wenn
wir klug, unbefangen und mutig sind,
auch heute noch die Möglichkeit behalten, das

XXXII. August 1929. 2
 
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