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Kunstwart und Kulturwart — 34,2.1921

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1921)
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Fuchs, Emil: Freie Liebe
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Kuntze, Friedrich: Das Leben ohne Autorität
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https://doi.org/10.11588/diglit.14433#0163

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schaft zweier Menschen irgendwie von der Gemeinheit der airdern geschädigt
und bedroht wird. Der Staat schützt das Eigentum und regelt sein Ge-
schick, sollte der Staat wirklich nicht auch trgendwie dies Stück allerhöchsten
Menschentums schützen und seine Einordnung in die übrige Menschenwelt
regeln müssen? Die heutige Ehegesetzgebung hat viel Falsches und Törich--
tes. Das ist wahr. Äberwinden wir das Falsche nnd Törichte, ändern wir
die Gesetzgebung nach dem Höchsten Ideal, das uns heute als Wesen der
Ehe ausleuchtet.

Aber lassen wir uns nicht bestimmen, aus der falschen Lhegesetzgebung
des Staates uns ein Wesen der Ehe zu konstruieren. Denn das würde
uns die Augen blind machen für ein wirklich tzohes, das über die Gesetze
einer vergehenden Zeit hinaus aufleuchtet und ein Stück allerbesten Men-
schentums ist. Emil Fuchs

Das Leben ohne Autorität

er Historiker kommender Fahrhunderte wird einmal unsere Zeit mit

erheblich mehr Interesse betrachten, als viele von uns beim besten

Willen für sie aufbringen können. Kein Wunder: er wird sie als
Diagnostiker betrachten, wir erleben sie als Patienten, und es ist
so eine Sache um die „ interessanten Fälle" — wenn man selbst in
dem Falle ist. Anser Fall ist peinlich: er ist der eines Experimentes
der Natur im Organischen. Dies muß ich erst etwas ausführlicher aus--
einandersetzen. — Es kommt vor, daß die Natur ein Individuum zur
Welt kommen läßt, mit allen lebenswichtigen Organen, aber ihm irgend-
ein Funktionszentrum nicht mitgibt, das, zum Leben nur indirekt wichtig,
sein Nichtvorhandensein erst später unangenehm offenbart. Es kommt
auch vor, daß die Natur beim erwachsenen Individuum ein solches Organ
zerstört, ein scheinbar unwichtiges Rädchen aus dem Uhrwerk wegnimmt.
Dann haben wir die sogenannten Ausfallerscheinungen, die für den Tech-
niker der menschlichen Natur so ungemein anziehend sind, da man die
eigentümliche Bestimmung einer Vorrichtung deutlicher erkennen kann,
wenn sie in einem Zusammenspiel vieler Funktionen bei bekanntem End-
ergebnis wegfällt, als wenn sie da ist. Nun wohl: die Vergleichung des
Staates mit einem Organismus ist alt, bekannt und verpönt.

Trotzdenl will ich diese Analogiensammlung (denn mehr ist es nicht)
um eine neue Analogie bereichern. Fn meiner Kindheit stellten die jungen
Arzte sehr eisrig den Mandeln (Amygdalae, Tonsillae) nach, und jeder
intelligente Iunge legte Wert darauf, daß ihm mindestens eine Mandel
möglichst radikal ausgeschnitten wurde; ich selbst entging diesem Schicksal
nicht durch eigenes Verdienst. Man nannte die Mandeln eben, wie so
manches Andere, dessen Bestimmung man noch nicht kannte, „rudimentäre
Organe". Später sah man dann, an sehr satalen Aussallerscheinungen,
ihren eigentlichen Zweck. Nun wohl, auch der Staat hat solche „rudimen-
tären Organe", solche „Drüsen". Sie sind dem radikalen Staatstheoretiker,
das heißt also dem Mann, der mit einer ganz schematischen, gründlich ver-
einfachten Idee von diesem Organismus arbeitet, gründlich verhaßt, und
er strebt sie mit Messer und Feuer auszurotten. Zu ihnen gehören Erschei-
nungen wie Kasten, Luxus, Mode, Standesehre, zu ihnen gehört vor allem
die Autorität. Gehört — oder gehör te — denn ihre Ausrottung ist zur
allseitigeu vorläufigen Freude gründlich geglückt. Die Gedanken, die ich
 
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