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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Mörikes Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0625

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IVlörikes Lyrik.

Er war ein Dichter. Noch jedem, dem Mörikes Lhrik nahe
getreten ist, drängte sich vor allem dieser Eindruck auf: hier ist kein
Redner, sondern ein Gestalter. Und weiter: er war ein Lyriker.
Ein Körnchen Salzes her, und man darf sagen: der Epiker macht den
Hörer zum Betrachter, der das Leben an sich vorbeiwallen läßt, der
Lyriker macht ihn zum Lebenswaller selbst. Ueberall bei Mörike über-
nimmt die Phantasie die Führung unserer Seele. Bei den erzählenden
schwindet der Erzähler aus unserem Bewußtsein, das Erzählte wird
selbständig, beginnt vor uns zu leben und erregt, vor unserm innern
Auge verkörpert, nun unsre Gefühle schier so unmittelbar, wie eine
gegenwärtige Wirklichkeit. Tönt aber in seinen Gedichten ein Jch sich
aus, so fühlen wir uns erst recht nicht als Hörer, sondern als Erleber,
denen das sprechende Jch für die Dauer des Genusses zum eigenen
Jch wird.

Und das geschieht, wenn wir einmal ganz zu Mörike gekommen
sind, mit einer Kraft, wie kein einziger anderer sie stärker ausübt.
Selbst in den Jdyllen. Verzaubert uns der „alte Tnrmhahn" nicht
leibhaftig ins Cleversnlzbacher Pfarrhaus und in seine Bewohner?
Die Balladen werden zu Auftritten. Das „verlasscne Mägdlein" er-
leben wir znschauend aus nächster Nähe und doch wieder so, als
trügen wir all ihr Leid in uns selber. Mit dem „Feuerreiter" fiebern
wir. Treffen zwei Mörikesche Gestalten zusammen, wird das Berichten
zur Zwiesprache und die Zwiesprache zur Handlung. „Schön Roh-
traut"! Aber ebensowenig wie bei Walthers „Tandaradei" kommt das
daher, daß des Poeten Talent im Grunde ein mehr dramatisches
wäre, sondern die Lebendigkeit der lhrischen Darstellung fließt ein-
fach aus der sprühenden Lebendigkeit des Fühlens heraus.

Das wäre freilich nicht möglich, wenn die Uebertragung nicht
so unmittelbar wäre. Es ist, als verflüchtige sich bei Mörike nichts
auf dem Wege vom innern Erfassen zum Wort. Wir sind versucht,
von einer unerhörten lyrischen Technik zu sprechen, aber das Wort
Technik erscheint uns zu schwer, zu tot zur Bezeichnung dieser Sprudel-
kraft an Sprachkunst. Kein einziger Deutscher außer Goethe hat sie
als Lyriker in gleichem Maße besessen und selbst Goethe nur in wcnigen
allerglücklichsten Stunden.

Und MöAxxZ Phantasie arbeitcte mit dem innern Gehör so
herrlich wie mit dem innern Gesicht. Wie er das bezeichncnde Wort
und das bezeichnende Bild aufblitzen läßt, so begleitet gleichsam, wie
das Orchester das Bühnengeschehn, in Nhythmus und Reim eine latente
Musik. Man wolle die schon genannten erzählendcn Gedichte, man
wolle dann etwa noch „Jm Frühling", „Um Mitternacht" und den
„Gesang zu Zweien" im Rhythmus mit Betonung sprechen, laut und
wiederholt, bis jede Silbe im Reigen schreitet. Jst nicht, was wir
dann hören, schier eine sprachliche Mimik von einer Ausdruckskraft,
als wäre das Fühlen des Dichters selber mit seinem Beugen und
Bäumen, mit dem Zögern und Beschleunigen jeder Augenblicksbcwegung
in höchster Anschaulichkeit unmittelbar hörbar geworden? Also eine
Sprache von der höchsten charakteristischen Kraft.

S02

Aunstwart
 
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