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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 59.1925 (April-September)

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Nr. 1
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Steinmann, Ernst: Michelangelo (1475-1925)
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Tietze, Hans: Die Reaktion in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41231#0028

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Die Reaktion in der Kunst

Forschung verdichtet. Man braucht nur Namen wie Carl Frey, Carl Justi,
Henry Thode zu nennen, die in der Erforschung Michelangelos den Abschluß
ihres reichen Lebenswerks gefunden haben. Aber haben sie uns wirklich den
Schlüssel für das Labyrinth in die Hand gegeben? Gewiß nicht!
Vielleicht hätte ihn Goethe gefunden in seinen späten Tagen, als sein
Geist den Llug ins Grenzenlose nahm. Hat er nicht das Leben des Benvenuto
Cellini übersetzt und in Rom selbst den Torquato Tasso gedichtet?
Die Nachwelt feiert Geburtstag und Todestag des Genius alle fünfzig,
alle hundert Jahre, wie die katholische Kirche alle fünfundzwanzig Jahre
das Anno Santo begeht. Wieder ist es Goethe, der in tiefsinnig geheimnis-
vollen Worten zeigt, wie wir das Gedächtnis Michelangelos begehen sollen:
„Unbegrenzt“ nennt er das Gedicht im West-Östlichen Divan. Bieten wir es
als Huldigung dem „Unbegrenzten“ dar:
Daß Du nicht enden kannst, das macht Dich groß,
Und daß Du nie beginnst, das ist Dein Los,
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt, ist offenbar,
Das was zu Ende bleibt und Anfangs war.

DIE REAKTION IN DER KUNST
VON HANS TIETZE
Jede Pause nötigt zur Besinnung. Das Wiedererscheinen der „Kunstchronik“
lädt dazu ein, die allgemeine Lage der Kunst von damals und von heute
zu vergleichen; und trotz der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne der Unter-
brechung ist kein Zweifel, daß diese Situation eine wesentlich andere ist.
Auf dem ganzen Gebiete der zeitgenössischen Kunst hat eine deutliche Reak-
tion gegen den Radikalismus der jüngstvergangenen Zeit eingesetzt; die ex-
tremen Lührer haben großenteils ihre Programme revidiert, der künstlerische
Nachwuchs steht in Gegensatz zu den vorangegangenen Exzessen. Maßhalten
ist mit einem Male wieder eine Tugend geworden. Statt des kühnen Satzes
in die Zukunft ein Zurücklenken zur Vergangenheit; statt der Auflösung der
Lorm ihre peinlich genaue Durcharbeitung; statt des Schweigens in allen
Erregungen ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Ruhe; nach den Gewalt-
samkeiten der gegenstandslosen Konstruktionen ein neuer Naturalismus. Auf
die Inflation der Richtungen, Sekten und „ismen“ folgt die Krise der Sa-
nierung. Diese primitivistische Bewegung ist so international, wie die frühere
Revolution es gewesen war; die Verwandtschaft von Erscheinungen wie des
 
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