28 Geistesgeschichtliche Annäherung
Der Stammbaum
Bilder übernahmen in den Kirchen des Mittelalters stets mehrere Funktionen: Sie sollten belehren im Sinne einer Bibel-
geschichte für Analphabeten sowie die Erinnerung an die beschriebenen Szenen stets wach halten und waren hierzu
durch ihre starke Anrührung an das Emotionale besonders geeignet. Das Motiv der „Wurzel Jesse", das im 12. Jahrhundert
entstand und seine Ausprägung zunächst in den französischen Glasfenstern der Kathedralen von St. Denis und Chartres
fand, erhält in der Deckenmalerei von St. Michael eine einzigartige Wirkung. Es bezieht den darunter befindlichen
Betrachter in die ganzheitliche Gesamtschau ein, die eine Linie vom Baum der Erkenntnis und der Darstellung des Sünden-
falls bis zum Lebensbaum Christi zieht. Schöpfung, Sündenfall und Erlösung werden in einen Gesamtkontext gestellt,
der von der Allmacht und der Gnade Gottes beherrscht wird. Axel Bolvig arbeitet darüber hinaus eine weitere, kirchen-
politisch-ideologische Bedeutungsebene heraus: Das in der Längsachse angeordnete Deckengemälde nimmt seinen
Anfang im Westen - unter dem Westchor der Kirche befindet sich in der Krypta das Grab Bischof Bernwards - und zieht
sich über das Mittelschiff als den Hauptversammlungsraum der Besucher. Der Heilige der Kirche wird geehrt und zu-
gleich in die Vorstellungswelt des Gemäldes als Stammvater künftiger kirchlicher Führer einbezogen.
Axel Bolvig
Das Mittelschiff von St. Michael wird von einem monumen-
talen Deckengemälde überfangen, das man heute gemein-
hin als „Wurzel Jesse" bezeichnet. Es soll eine umfassende
Idee oder Vorstellung von der Abstammung Jesu vom
Stammvater Isai (= Jesse) vermitteln.1 Diese Genealogie
wird außerdem in einen Rahmen von Propheten gesetzt,
der alttestamentliche Aussagen durch neutestamentliche
Beziehungen in Form einer Typologie symbolisiert. Das
heißt, es wird eine symbolische Verknüpfung zwischen
zwei historischen Zeiträumen geschaffen: dem Judentum
und dem Christentum, der Zeit vor und nach Christi Geburt.
Diese großen abstrakten Themen, die eine Zeitspanne von
vielen Generationen umfassen, sind des Weiteren in eine
Sündenfallproblematik eingebunden. Das Gemälde soll
damit die Vorstellung von der Abstammung, dem großen
Zeitraum von der Sünde des Menschen im Garten Eden bis
zum Erscheinen des Erlösers und dem ideellen Zusammen-
hang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ver-
mitteln. Ich werde später versuchen nachzuweisen, dass
diese „conceptual art", diese programmatische Kunst, fer-
ner einen ideologischen Aspekt aus der Entstehungszeit
des Bildes enthält. Somit werden Ansprüche an ein Ge-
mälde gestellt, dessen unmittelbare Stärke in der mate-
riellen Visualisierung und nicht in der Abstraktion liegt.
Zudem wandte man zu diesem Zweck eine ganz neue Art
der Motivgestaltung an, die früh im 12. Jahrhundert ge-
schaffen wurde und Ausdruck der aktuellen Bedürfnisse
sein sollte, die historischen Wurzeln zu manifestieren.
Eine der Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit Bild-
kunst ist heute unsere Abhängigkeit von textlicher Infor-
mation, da ikonographische Zusammenhänge häufig nicht
mehr nachvollzogen werden können. Nach Erwin Panofsky
und der gesamten Warburg-Schule ist Ikonographie als
Verweis der visuellen Sprache auf die verbale Sprache zu
verstehen: Der ikonographische Inhalt eines Motivs ent-
spricht einem „Bildtext". So wie man einen Text lesen lernt,
muss man auch die konventionelle Zeichensprache der
Ikonographie erst lernen. Gesprochene Sprache und Schrift-
sprache basieren auf einer willkürlichen Zeichenrelation
zwischen Ausdruck und Inhalt. Dasselbe gilt im Grunde für
die Ikonographie, die jedoch in ihrem Ausdruck oft auf einer
Art Analogie beruht. Der analoge Aspekt eines figurativen
Bildes ist nach dem Analysebegriff Panofskys auf einem
präikonographischen Niveau angesiedelt, welches ihm zu-
folge beim Betrachter praktische Erfahrung aus der ihn
umgebenden Welt voraussetzt. Die Kombination von Aus-
druck und Inhalt schafft einige zusätzliche Bedeutungen,
die sich einer eigentlichen Analyse entziehen, in eine Inter-
pretation aber mit einfließen. Die Interpretation setzt
nach Panofsky in der Welt der Ideen an. Sie kann zu einem
Verständnis der jeweiligen Weltanschauung einer Epoche
führen.2 Es handelt sich um ein idealistisches Interpreta-
tionsmodell, das mit Hilfe der Semiologie erweitert werden
kann, sodass auch die Ideologie enthalten ist. Nach Roland
Barthes können die zusätzlichen Bedeutungen eines Bildes,
sein konnotativer Inhalt, auf der Ausdrucksseite als die
Rhetorik des Bildes aufgefasst werden und auf der Inhalts-
seite als Ideologie, die auch politische, ökonomische und
soziale Aspekte umfasst.3
Keine der beiden Schulen hat das Bild als einen aktiven Mit-
spieler in den Diskurs der Zeit einbezogen. Bilder spiegeln
nicht nur Gefühle und Haltungen wider, sie schaffen sie
auch. Ihre eigenen Gestaltungsmittel sind die aktiven Fak-
toren.4 Ferner lassen die beiden Schulen den Beobach-
tungsaspekt außer Acht, also das, was der Betrachter sieht
und welche Bedeutung dies auf einer individuellen Ebene
haben kann.5
Da das Deckengemälde der Michaeliskirche der abstrakten
Welt der Ideen verpflichtet ist, ist sein präikonographi-
sches Niveau - oder sein denotativer Inhalt - von unter-
geordneter Bedeutung. Seine Ikonographie ist besonders
beachtenswert, weil es sich um eine motivische Neuschöp-
fung des Wurzel Jesse-Themas handelt. Das wesentliche
Interesse gilt der Ideenwelt, der Weltanschauung, die in
das Bild hineingelegt worden ist, und es gilt der Ideologie,
die für die Ausgestaltung prägend war. Es sind viele Be-
deutungsebenen mit dem Deckengemälde verknüpft.
Der Stammbaum
Bilder übernahmen in den Kirchen des Mittelalters stets mehrere Funktionen: Sie sollten belehren im Sinne einer Bibel-
geschichte für Analphabeten sowie die Erinnerung an die beschriebenen Szenen stets wach halten und waren hierzu
durch ihre starke Anrührung an das Emotionale besonders geeignet. Das Motiv der „Wurzel Jesse", das im 12. Jahrhundert
entstand und seine Ausprägung zunächst in den französischen Glasfenstern der Kathedralen von St. Denis und Chartres
fand, erhält in der Deckenmalerei von St. Michael eine einzigartige Wirkung. Es bezieht den darunter befindlichen
Betrachter in die ganzheitliche Gesamtschau ein, die eine Linie vom Baum der Erkenntnis und der Darstellung des Sünden-
falls bis zum Lebensbaum Christi zieht. Schöpfung, Sündenfall und Erlösung werden in einen Gesamtkontext gestellt,
der von der Allmacht und der Gnade Gottes beherrscht wird. Axel Bolvig arbeitet darüber hinaus eine weitere, kirchen-
politisch-ideologische Bedeutungsebene heraus: Das in der Längsachse angeordnete Deckengemälde nimmt seinen
Anfang im Westen - unter dem Westchor der Kirche befindet sich in der Krypta das Grab Bischof Bernwards - und zieht
sich über das Mittelschiff als den Hauptversammlungsraum der Besucher. Der Heilige der Kirche wird geehrt und zu-
gleich in die Vorstellungswelt des Gemäldes als Stammvater künftiger kirchlicher Führer einbezogen.
Axel Bolvig
Das Mittelschiff von St. Michael wird von einem monumen-
talen Deckengemälde überfangen, das man heute gemein-
hin als „Wurzel Jesse" bezeichnet. Es soll eine umfassende
Idee oder Vorstellung von der Abstammung Jesu vom
Stammvater Isai (= Jesse) vermitteln.1 Diese Genealogie
wird außerdem in einen Rahmen von Propheten gesetzt,
der alttestamentliche Aussagen durch neutestamentliche
Beziehungen in Form einer Typologie symbolisiert. Das
heißt, es wird eine symbolische Verknüpfung zwischen
zwei historischen Zeiträumen geschaffen: dem Judentum
und dem Christentum, der Zeit vor und nach Christi Geburt.
Diese großen abstrakten Themen, die eine Zeitspanne von
vielen Generationen umfassen, sind des Weiteren in eine
Sündenfallproblematik eingebunden. Das Gemälde soll
damit die Vorstellung von der Abstammung, dem großen
Zeitraum von der Sünde des Menschen im Garten Eden bis
zum Erscheinen des Erlösers und dem ideellen Zusammen-
hang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ver-
mitteln. Ich werde später versuchen nachzuweisen, dass
diese „conceptual art", diese programmatische Kunst, fer-
ner einen ideologischen Aspekt aus der Entstehungszeit
des Bildes enthält. Somit werden Ansprüche an ein Ge-
mälde gestellt, dessen unmittelbare Stärke in der mate-
riellen Visualisierung und nicht in der Abstraktion liegt.
Zudem wandte man zu diesem Zweck eine ganz neue Art
der Motivgestaltung an, die früh im 12. Jahrhundert ge-
schaffen wurde und Ausdruck der aktuellen Bedürfnisse
sein sollte, die historischen Wurzeln zu manifestieren.
Eine der Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit Bild-
kunst ist heute unsere Abhängigkeit von textlicher Infor-
mation, da ikonographische Zusammenhänge häufig nicht
mehr nachvollzogen werden können. Nach Erwin Panofsky
und der gesamten Warburg-Schule ist Ikonographie als
Verweis der visuellen Sprache auf die verbale Sprache zu
verstehen: Der ikonographische Inhalt eines Motivs ent-
spricht einem „Bildtext". So wie man einen Text lesen lernt,
muss man auch die konventionelle Zeichensprache der
Ikonographie erst lernen. Gesprochene Sprache und Schrift-
sprache basieren auf einer willkürlichen Zeichenrelation
zwischen Ausdruck und Inhalt. Dasselbe gilt im Grunde für
die Ikonographie, die jedoch in ihrem Ausdruck oft auf einer
Art Analogie beruht. Der analoge Aspekt eines figurativen
Bildes ist nach dem Analysebegriff Panofskys auf einem
präikonographischen Niveau angesiedelt, welches ihm zu-
folge beim Betrachter praktische Erfahrung aus der ihn
umgebenden Welt voraussetzt. Die Kombination von Aus-
druck und Inhalt schafft einige zusätzliche Bedeutungen,
die sich einer eigentlichen Analyse entziehen, in eine Inter-
pretation aber mit einfließen. Die Interpretation setzt
nach Panofsky in der Welt der Ideen an. Sie kann zu einem
Verständnis der jeweiligen Weltanschauung einer Epoche
führen.2 Es handelt sich um ein idealistisches Interpreta-
tionsmodell, das mit Hilfe der Semiologie erweitert werden
kann, sodass auch die Ideologie enthalten ist. Nach Roland
Barthes können die zusätzlichen Bedeutungen eines Bildes,
sein konnotativer Inhalt, auf der Ausdrucksseite als die
Rhetorik des Bildes aufgefasst werden und auf der Inhalts-
seite als Ideologie, die auch politische, ökonomische und
soziale Aspekte umfasst.3
Keine der beiden Schulen hat das Bild als einen aktiven Mit-
spieler in den Diskurs der Zeit einbezogen. Bilder spiegeln
nicht nur Gefühle und Haltungen wider, sie schaffen sie
auch. Ihre eigenen Gestaltungsmittel sind die aktiven Fak-
toren.4 Ferner lassen die beiden Schulen den Beobach-
tungsaspekt außer Acht, also das, was der Betrachter sieht
und welche Bedeutung dies auf einer individuellen Ebene
haben kann.5
Da das Deckengemälde der Michaeliskirche der abstrakten
Welt der Ideen verpflichtet ist, ist sein präikonographi-
sches Niveau - oder sein denotativer Inhalt - von unter-
geordneter Bedeutung. Seine Ikonographie ist besonders
beachtenswert, weil es sich um eine motivische Neuschöp-
fung des Wurzel Jesse-Themas handelt. Das wesentliche
Interesse gilt der Ideenwelt, der Weltanschauung, die in
das Bild hineingelegt worden ist, und es gilt der Ideologie,
die für die Ausgestaltung prägend war. Es sind viele Be-
deutungsebenen mit dem Deckengemälde verknüpft.