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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 6
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Hackemann, August: Kleist und Hebbel
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0292

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Otto Boyer. Dame am Kamin.

LEIST UND HEBBEL.

Von AUGUST HACKEMANN.

„Es gibt Geister von solcher Bedeutung,
daß nur die Unverschämtheit oder die Dumm-
heit sie zu loben wagt, Namen, die jedes ganz
gehorsamste Adjektiv, das sich ihnen mit
Räucherfaß und Fliegenwedel zur Seite stellen
wollte, verzehren würde, wie das Feuer den
Kranz, wenn jemand die Abgeschmacktheit
beginge, ihm einen aufzusetzen. Zu diesen
rechne ich —• mit aller Achtung vor Goethes
bekannten und relativ allerdings begründeten
Ausstellungen sei es ausgesprochen — Heinrich
v. Kleist.“ So schrieb Hebbel 1848 bei einer
Besprechung des „Käthchen von Heilbronn“ in
Rötschers Jahrbüchern für dramatische Kunst
und Literatur, und schon vorher hatte er mehr-
fach dem so tragisch zugrunde Gegangenen
seine höchste Verehrung bezeigt. Als 22jäh-
riger Jüngling hielt er in Hamburg einem
Kreise literaturfreundlicher junger Männer einen
Vortrag „Über Theodor Körner und Heinrich
v. Kleist“, in dem er mit scharfer Kritik die
übermäßige Verehrung der Körnerschen Muse
in ihre Schranken zurückwies und, wie so oft

in seinem späteren Leben auch hier mit
Bewußtsein gegen den Strom schwimmend,
auf Kleists bei weitem wertvollere Eigen-
art hindeutete. Damals schrieb er, von
der Ahnung seiner inneren Verwandtschaft
mit dem Guiscarddichter wohl seltsam er-
griffen, die charakteristischen Worte: „Er
wußte, und mochte es mit Schmerz an
sich erfahren haben, daß der Vernichtungs-
prozeß des Lebens keine Wasserflut,
sondern ein Sturzbad ist, und daß der
Mensch über jedem großen Schicksal,
aber unter jeder Armseligkeit steht.“ Das
große Schicksal, gegen die Welle des
Epigonentums für eine moderne Kunst an-
kämpfen zu müssen, war ihnen beiden
ebenso gemeinsam, wie das rastlose Ringen
mit den Armseligkeiten des Daseins. Kleist
ist ihnen erlegen, Hebbel, die bei weitem
gesündere Natur, rang sich durch und
gelangte zur Verwirklichung seiner dichte-
rischen Sehnsucht, den Deutschen ein
neues großes Drama zu geben. Er war
der Glücklichere von den beiden, denn er
war der Nachgeborene.

Kleists durchaus auf das Humanistische
angelegte Natur litt an dem für ihn unheil-
vollen Widerspruche, zugleich Fortsetzung
des alten klassischen Ideals und Be-
gründung einer neuen, dem Realen zu-
gewandten Kunstbetätigung sein zu wollen.
Er schrieb für eine Gesellschaft, die dem
schöngeistigen Teegespräch seiner eigenen
Zeit vollständig entwachsen sein mußte; er
brauchte ein Publikum, das durch die Schule
Hegels und der Jungdeutschen zu gehen hatte,
um seinen psychologisch vertieften Realis-
mus, seine mit Vorliebe am Abgrunde mensch-
licher Verirrungen und Leidenschaften hin-
streifende Phantastik begreifen zu können.
Dieses Publikum hatte er nicht, und so
schied er hoffnungslos mit der ganzen traurigen
Gelassenheit des Unverstandenen aus dem
Leben. Was er gewollt, das erreichte Hebbel,
eben weil die Bedingungen für dieses Er-
reichen nunmehr geschaffen waren. Die Ge-
sellschaft war modern geworden; das welt-
fremde Glück der Romantik schien zerstört
und an seine Stelle ein frischer, gesunder
Wirklichkeitssinn getreten, dem nichts Mensch-
liches fremd sein wollte. Jetzt war die Zeit
gekommen für einen Poeten, die von Goethe
und Schiller überlieferte große dramatische
Form mit einem Inhalt zu füllen, der dem
Sehnen der Gegenwart nach überragenden
Menschen und Schicksalen entsprach. Jetzt
konnte, wenn auch unter gewaltigen Kämpfen,
die Tragödie des neuen Jahrhunderts erstehen.
Hebbel hat sie uns gebracht, und wenn er,
den seine ganze Veranlagung zur Weltgeschichts-
dramatik, zur großen Menschheitstragödie hin-
trieb, doch zum Teil in Zeitproblemen befangen

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