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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,4.1912

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1912)
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Spitteler, Carl: Die jugendliche Gärung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9025#0376
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Iahrg.25 ErstesSeptemberheft1912 Heft 23

Die jugendliche GLrung

^ nter den rnannigfachen Ursachen des Anbehagens (man darf
^ I mitunter auch sagen des Unglücks) der Schuljugend fcheint mir
^^die wichtigfte die, daß die Natur sich nicht um die Erlasse der
Erziehungsbehörden kümmert. Die Natur ist durch und durch un-
püdagogisch. Gerade dann, wenn sich's darum handelt, sich mit An-
spannung aller Kräste einzig um das Maturitätsexamen zu bemühen,
beginnt sie im Körper des Iungen Unordnung zu stisten. Merkwür-
dige Veränderungen geschehen, die den Patienten in Lrstaunen ver-
setzen, ihn beunruhigen, ja ängstigen, und die eine so mächtige Stimme
sprechen, daß es rein unmöglich wird, sie nicht zu vernehmen. Itnd
diese Stimme will genau das Gegenteil von dem, was die Zucht
der Menschen heischt. Hierdurch kommt zu der Unruhe, der Angst noch
der Kampf, der schwierige, peinliche, täglich erneute Kampf gegen sich
selbst, das heißt gegen die Gebote der Natur. Gehe, mein Iunge,
und studier lateinische Grammatik und Trigonometrie in dieser Stim-
mung! Von diesem schweren Kampf, anstatt ihn mit Freundestrost
und Freundesrat zu erleichtern, hat sich die menschliche Gesellschast
das Wort gegeben, nichts zu wissen und nichts zu ahnen, obschon ihn
jeder einzelne seinerzeit selbst durchgemacht hat. Die sogenannte kör-
perliche Entwicklung ist für die meisten Schulen einfach nicht da. Was
spielt sie dagegen in der Wirklichkeit für eine gewaltige Rolle! Alle
die rätselhaften Melancholien und ein großer Teil der unerklärten
Schülerselbstmorde stammen von ihr. Ilnd zwar muß der Zeitpunkt,
wo die Entwicklungsunruhe beginnt, viel srüher angesetzt werden, als
man gewöhnlich meint; die Schüler sind immer viel älter als man
glaubt und in viel srüherem Alter Vollmenschen, als die Theorie
annimmt.

Mit der körperlichen Gärung geht eine seelische im Verein. Sonder-
bare Seelenphänomene, Exaltationen, Größenvelleitäten, Launen, tiese
Verstimmungen neben trotzigem Kraftbewußtsein schassen ein neues
Ich, das sich von dem alten Ich verschieden sühlt und das nicht weiß,
woaus und wohin; aber es muß unbedingt irgendwo hinaus, denn das
gegenwärtige Gesühl ist ein so unzusriedenes, verzweifeltes, krank-
hastes, daß es in diesem Zustande unleidlich auszuhalten ist. Ietzt
geh und studier Trigonometrie und griechische Grammatik! Auch
dieser Seelenzustand wird von der Schule meist einsach ignoriert, und
wo er sich unnütz macht (und er macht sich unnütz z. B. durch Groß-
hanserei, dramatischen und lyrischen Unfug usw.), grob zurückgewiesen
oder gar verspottet.

Wenn mir etwas in der Seele zuwider ist, so ist es das Spotten
über die „unreifen" Iugendpläne, Iugendgedichte, Iugendliebeleien
der Primaner, Sekundaner und Tertianer. Was hat denn eine Nation
Besseres als Primaner und Sekundaner? und wer wären wir alle ge-
worden ohne unsere unreisen Pläne, ohne unsern lächerlichen Größen-
wahn von damals? Was wir sind, was wir etwa geleistet haben, ver-

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