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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Ausdruck: sechster Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0270

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Ausdruck

Sechster Leil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins*

lles Seelische, so unmittelbar es „erlebt" wird, so deutlich, über-
V/I wältigend und unverkennbar es zuweilen Zug um Zug in uns sich
^M^abspielt, weigert sich dennoch mit seinem fließenden, verschwimmen-
den, prinzipiell grenzen-losen Wesen eindeutiger Beschreibung. Ein Würfel
fügt sich der Zeichnung mit dem Stift, der Messung mit dem Stab, der
Nennung mit Namen; beschreibbar, wiedererkennbar, abgegrenzt nimmt
er seinen Naum ein. Lin menschliches Angesicht fügt sich dem Photo-
graphen-Apparat, dem Werkzeug des Malers, in mehrfacher Hinsicht der
anatomischen Messung und der Beschreibung durch das Wort; doch schon
ein Angesicht vermag kein Mittel mehr wesenhaft anschaubar zu machen.
Seelisches indes, überhaupt keinem der „Sinne" zugänglich, ist mit Worten
kaum noch zu verdeutlichen. Der Aufwand ganzer Novellen, selbst wenn
sie „psychologisch" gemeint sind, was nur eine von vielen Möglichkeiten
ist, verdeutlicht davon nicht mehr als ein paar Wandlungen und Züge,
die aus einem prinzipiell Unendlichen herausgehoben sind, der Aufwand
ganzer Lehrbücher nicht mehr als ein paar Funktionen und Vorgänge,
deren Iusammenhang verschwommen bleibt. Iede Darstellung eines See-
lischen wendet sich an die Erfahrung des einzelnen Lesers; findet dieser
das Gemeinte nicht in sich als bekanntes Erlebnis, so bleibt es ihm unbe-
kannt. Man kann dem, der es nie gesehen hat, ein Boot oder ein Ge-
birge so beschreiben, daß er es sich dennoch recht wohl vorstellen kann. See-
lisches kann man nur dem beschreiben, der es — unbenannt vielleicht und
unreflektiert im Spiegel der Betrachtung — schon aus eigenem Erlebnis
kennt. Vollends das Gebiet der „Triebe", die wir hier betrachten, er-
weist sich als schwerst zugänglich einhellig-zwingender Benennung und
Verdeutlichung. Die Triebe zusammen sind das Bündel des „Lebens".
Leben ist nichts anderes als die Fülle der Triebe. Nichts treibt die Triebe
an. Sie selbst treiben an. Daß sie es tun, das ist Zeichen des Lebens,
des Nicht-tot-seins.

Hs>>an spricht von „Ausdrucktrieb". Man zielt nicht auf die Tatsache
^^damit, daß zuweilen ein Seiendes durch ein andres „ausgedrückt"
wird, wie z. B. Gesinnungen durch Rechtsbestimmungen oder Macht-
verhältnisse durch politische tzandlungen. Solches geschieht nicht kraft
eines Triebes, sondern kraft höchst verwickelter, sozialer Umsetzungs-Mecha-
nismen. Man zielt auf die Tatsache, daß der Mensch, der lebendige
Linzelne „sich" ausdrückt. Er tut das in der Tat. Und zwar immerfort
und gewissermaßen ununterbrochen. Was er auch tut, wir erkennen
in seinem Tun nicht nur schlechthin, daß „etwas getan wird", daß „etwas
geschieht" — wie im Blitz, im Strömen des Wassers, im Wuchten ge-
preßten Dampfes oder im Glühen elektrischen Drahtes —, sondern wir
nehmen darin wahr ein „Ich", welches das Etwas tut; wir werden
durch das Tun der Art und Wesenheit, der Besonderheit und Eigentüm-
lichkeit eines Individuums, uns ähnlich und begreifbar, inne. Vor Iahren
verkehrte ich in einer achtköpfigen Familie. Eines Tages zog einer der

* Die früheren Leile erschienen im letzten Iuni-, Alugust-, September-, Ok-
tober- und Ianuar-Heft des Kunstwarts.

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