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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Zur neuen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0263

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Zur neuen Dichtung

^W^ichtung war -einmal Offenbarung des Geistes der Wenigen an Alle.
>-^^War einmal Bekenntnis zu den LebenswerteN) auf denen die Gemein--
^^schaft sich aufbaute, Bekenntnis in Form von Darstellung der großen
und der typischen Lrlebnisse, die es gab, und so ziemlich für alle gab. Zwin«
gend wie die Einstellung zum Stoff, mit dieser Einstellung, war die Form,
denn scharfe Linstellung ist an sich schon Form und als solche nicht Hülle,
sondern lebendiges Gesicht, nicht etwas Hinzugetanes, sondern das im
Klärungsprozeß Abriggebliebene. Form ist das (Lrgebnis eines Vorgangs,
den heimlich diese Frage regiert: Worauf kommt es an? Dieses Ergebnis
stellt sich ein, wo das Leben eine feste Achse hat, wie bei den trojanischen
tzelderl oder den Gläubigen der mittelalterlichen Kirche. Ls bleibt aus,
wo Problematik sich findet als Dauerzustand, selbst also Form des Lebens
ist, und zwar veränderliche, nicht feste, wie heute. Unsere Dichtung
wird ohne Priestervorrecht geübt, demokratisch, von den Vielen, aber von je--
dem für Wenige. Das ist eine Krankheitserscheinung, die überwunden wer»
den kann. Vorläufig wird sie aber noch lange nicht verschwinden können,
denn es fehlt die Achse, das geistige Band, der gemeinsame Rhythmus, die
Volksgemeinde oder wie immer man das resonanzfördernde Medium be^-
zeichnen will. Wir sind Suchende. Das waren auch die Griechen, auch die
Mystiker. Aber sie waren Suchende mit festem Ziel. Anseres ist unbekannt.
Worte, wie Gott, Kosmos, Eros, Gemeinschaft besagen nichts, so lange
sie nicht aus der Alchymistenwerkstatt der Lyriker, Pädagogen und.Sozial--
theoretiker, aus der papierenen Welt also, in die blutlebendige, sonn- und
sturmerfüllte verpflanzt werden und zwar so, daß sie am Ende aller großen
tzeerstraßen des Lebens als sicheres Ziel winken. So weit sind wir noch
nicht. Asphalt, Phrasen, Maschinengedröhn und naturfremde Sitten töteten
die Organe ab, mit denen der wahre Dichter und der gesunde Mensch jener
naturlebendigeren Zeiten sein sicheres, überzeugendes und tröstlich leuch-
Lendes Bild vom Sinn des Daseins empfing. Wir ahnen nur noch, was
zenen den tzalt gab, was uns auch Stütze sein Wnnte, wenn nicht — der
problematische Mensch den Gott in der Brust durch Zweifel zerstört hätte,
um sich ihm freilich nach langem Irren in gesetzfernem, ^zehrendem Indivi«
dualismus aus selbstgebahntem, das Gesetz neu suchendem Lrkenntnisweg
wieder zu nähern. Mechanisierung der zerfallenen lebendigen Gemeinschaft
und Individualisierung der vom Baum des Lebens abgelösten Persönlich«
keit, bis zur Vernichtung der Persönlichkeit — beides ging nebeneinander
her und deckte sich im Letzten, denn der völlig entpersönlichte, d. h. seiner
lebendigen Beziehungen zur Umwelt beraubte Individualist ist lediglich
Nervenbündel und als solches gleichwertig und artverwandt beliebigen
Mechanisierungsprodukten; man denke nur an den weitverbreiteten, gänzlich
unfruchtbaren und fast variantenlosen Typ der hysterischen Literatin oder
Malerin, die so klar überschaubar ist samt dem Bündel der ihr möglichen
Reaktionen, wce etwa ein preußischer Feldwebel.

Aus der amorphen Masse von Menschen, die ihrer wesentlichsten Auf--
gabe, als Bausteine an bestimmten Stellen des Gemeinschaftsgebäudes eine
ganz bestimmte Funktion auszuüben, beraubt sind, tauchen Einzelne auf,
willens, ihrem Leben wieder den tieferen Sinn zu geben, den die Nur»
Tiere, NurMeuropathen, Nur-Maschinen unter den heutigen Europäern
schon gar nicht mehr vermissen. DieseWenigen sind die Utopisten, die Künst«

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