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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 2 (Novemberheft 1923)
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Düsel, Friedrich: Gerhart Hauptmann: der Dramatiker im Spiegel der deutschen Volksseele
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0091

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Gerhart Hauptmann

Der Dramatiker im Spiegel der deutschen Volksseele

^^H^-it frommem Schauer erzählt Gerhart Hauptmann in der „Grie-
/» chischen Frühlingsfahrt" von seinem Besuch im Amphitheater zu
^"^^Athen. Er sitzt auf einem Priestersessel des verfallenen Riesen-
baues, und von der ragenden Felswand der Akropolis rinnt der Rausch
der Göttergegenwart auf ihn herab, den nach seiner Aberzengnng die alten
T'ragiker hier, auf dem geheiligten Grund des Elentherischen Dionysos,
vor der gottgefälligen Handlung des Schanspiels, nicht weniger gespürt
haben müssen als die 30 000 Hörer — wnßten oder ahnten sie doch,
daß sie Götter als Zuschauer hatten, dieselben, die bei Nacht und Tage die
Straßen der Stadt durchwanderten und dem Volke Traum und Wirklichkeit
nmwoben. Nur so konnte es geschehen, daß das antike Drama das ge-
heiligte Sinnbild der ins Erhabene gesteigerten Volksseele wurde. Und
der Dichter von heute schließt diese Betrachtung, aus der es halb wie Weh-
mut des Nnchgeborenen, halb wie Selbstbewußtsein des Mitberufenen
klingt, mit dem Ausrnf: „W as wäre ein Dichter, dessen Wesen
nicht der gesteigerte Ausdruck der Volksseele ist!"

Mich dünkt, in dem Priesterstuhl des antiken Theaters saß an jenem
Aprilmorgen des Iahres da von Athen her die Hähne krähten

und aus den Felslöchern der Akropolis die Eule schrie, einer, der Ge-
richtstag über sich selbst hielt. Blitzartig mögen in diesem Augenblick alle
seine Werke vor ihm erschienen sein. Er mag seine Fehler, Schwächen und
Blößen erkannt haben, schließlich, Lröstete ihn doch die ruhige Zuversicht:
Ich bin ein Teit meines Volkes — wö ich fehlte und irrte, fehlte und

irrte ich mit ihm; was ich leistete, quoll mir aus seiner Gemeinschaft:
immer habe ich nach seiner Hand getastet und nach seiner Seele gesucht.
Manchmal bin ich ihm fern geblieben und taub, als wäre ich ein Fremd-
ling und verstünde seine Sprache nicht mehr; manchmal aber bin ich
ihm ganz nahe gewesen, so daß ich seinen Herzschlag sühlte und zwischen
meinem und seinem Puls nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Wer
wirft den ersten Stein auf uns?

Dies oder ähnliches muß damals durch die Brust dessen gewandelt sein,
der im Land der Griechen den Spuren Homers und der Tragiker nachging
und doch keinen Augenblick seine moderne Seele verlor, der nach Urtrieben
und Urzuständen der Menschheit grub und sich doch bewußt blieb, daß jedes
Geschlecht und jeder einzelne in ihm sein eignes Leben leben muß. Niemals
aber hätte er die erhabenen Gesetztafeln der griechischen Tragiker vor sich
aufgestellt, wenn er sich nur als Künstler, nicht auch und mehr noch

Aovemberheft 1922 iXXXVI, 2)

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