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Kunstwart und Kulturwart — 35,2.1922

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1922)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Eine Reise in Holland: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14435#0109

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Eine Neife in Holland

Berliner Brief

Osterferien haben mich nach tzolland geführt. So weiß ich über
^-H^die allgemeine politische Lage nichts, als was in den Zeitungen steht.

Die Note der Reparationskommission mit ihrer Forderung der Rege-
lung des deutschen Budgets ohne Milderung der es stets in Verwirrung
bringenden Reparationen ist die neueste Androhung der Fremdherrschaft,
die schon lange droht, aber stets nur als Mittel der Ausplünderung,
nicht als ein solches positiver Ordnung gedacht ist. Es ist die Art,
wie die römische Senatsverwaltung die unterworfenen Staaten behandelt
hat, auch wenn sie formell befreundet oder verbündet oder doch autonom
waren. Die Schäden hat dann fpäter die kaiserliche Verwaltung reparieren
müssen. Reichstag und Reichsregierung haben sich gegen diese Androhung
verwahrt, worauf die Mark ein bißchen stieg, um dann freilich wieder
gleich zu fallen und jetzt kurz vor Genua in der Hoffnungsatmosphäre wie--
der ein bißchen zu steigen. Die Konferenz in Genua beginnt in diesen
Tagen. Ob sie einen Anfang der Vernunft bringt, steht dahin. Der
französische Napoleonismus wird es mit allen Mitteln großer und kleiner
Taktik zu verhindern suchen. Relativ günstig ist, daß dieses Mal die Russen
beteiligt sind, von denen man etwas will und braucht und von denen man
das Gewünschte bei ihrer geographischen Lage nicht durch Einmärsche er-
zwingen zu können glauben kann. Sie sind außerdem durch kein Schuld-
dogma isoliert und brauchen sich das Diktatverfahren nicht gefallen zu
lassen. Sie können eine Anderung des Versailler, auf das Schulddogma
begründeten Verfahrens erzwingen, und dann läßt sich diese famose Methode
auch den andern gegenüber schwer aufrecht erhalten. Von den bisherigen
Kämpfern kämpft nur die Türkei weiter und ist daher an den Verhand-
lungen nicht beteiligt. Sie ist durch geographische und soziale Verhält-
nisse sowie durch die entgegengesetzte Stellung Frankreichs und Englands
zu ihren griechischen Feinden dazu befähigt. Es gibt deutsche Politiker,
die das Vorbild der Türkei befolgt sehen möchten. Ob das mehr agitatorisch
gegen das gegenwärtige deutsche System oder wirklich politisch ernst ge--
meint ist, ist schwer zu sagen. Im letzteren Falle dürfte die Nnmöglich-
keit der Vergleichung und die Verführung durch kurzsichtige Schnei-
digkeitsideale auf der Hand liegen. Eine Analogie mit der Türkei lag
nur vor, solange Annahme oder Verwerfung des Versailler Friedens zur
Diskussion stand, und niemand kann sagen, wie die Dinge nach innen
und außen gelaufen wären, wenn man damals die wahnsinnigen Kon-
sequenzen des unerhörten Schulddogmas verworfen hätte. Zudem war
damals dessen Widersinnigkeit noch keineswegs so klar im allgemeinen
Bewußtsein, als das heute, auch noch ohne Sffnung der französischen und
englischen Archive, auf Grund verschiedener deutscher, österreichischer und
russischer Publikationen der Fall ist. Iedenfalls werden Deutschland und
Rußland durch die Macht der Verhältnisse aneinandergedrückt werden.
Was daraus folgen mag, weiß der Himmel.

Ich kann hier den bevorstehenden vier Wochen nicht vorgreifen und
will lieber einiges von den Eindrücken in Holland berichten. Die in solchen
Fällen zumeist gestellte Frage nach der Stimmung gegen Deutschland will
ich ganz übergehen. Solche Allgemeinheiten sind in Wahrheit unmöglich.
Die Menschen empfinden auch heute noch recht verschieden und es kommt

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