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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1914)
DOI Artikel:
Schlaikjer, Erich: Amerikanismus
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Malzan, E.: Die Zukunft der Sozialpolitik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0133

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Wenn ein deutscher Wirt in seinem Garten ein Karussell hinstellt, handelt er
nicht amerikanisch. Wenn aber eine reiche Zeitung in Berlin auf einem
freien Feld der Mark Brandenburg fünfundsiebzig Karussells aufpflanzt;
wenn sie diesen Ort des Schreckens durch eine besondere Eisenbahn mit
Berlin verbindet und für ein Monatsabonnement auf ihre Zeitung freie
Fahrt und ein warmes Abendbrot gewährt — dann schafft sie einen klas-
sischen Fall von Amerikanismus in Deutschland. Die äußerliche Massen-
haftigkeit kann aber auch fehlen. Wenn ein deutsches Warenhaus im
Innern seiner Räume ein Karussell aufstellt (was schon geschehen sein
soll), handelt es amerikanisch, obwohl nur von einem Karussell die Nede
ist. Die Vernichtung des ästhetischen Werts geht in diesem Fall von dem
geschlossenen Innenraum aus. Der Lärm des Karussells verlangt ästhetisch
nach dem freien Platz.

Wir können nun mit größerer Bestimmtheit fragen, ob diese Seuche
der Kulturlosigkeit auch bereits bei uns eingezogen ist. Die riesenhaften
Rummelplätze, die in Berlin und in anderen großen Städten ent-
standen sind, sprechen dasür: sie beruhen alle miteinander auf dem Umstand,
daß der Trödel eines Iahrmarkts verzehnfacht und eben darum bis zur
Roheit gesteigert wird.

Ferdinand Bonn scheiterte noch, als er in Berlin einen ameri-
kanischen Theaterbetrieb einsühren wollte; Max Reinhardt kann
als Erzieher zum Amerikanismus bereits Erfolge aufweisen. Seine
Aufmachung des Hauptmannschen Festspiels in Breslau war nach dem
Bericht von zuverlässigen Augenzeugen amerikanisch und auch den Massen--
wirkungen seiner Zirkusaufführungen haftet ein amerikanischer Beigeschmack
an. Eine Pantomime wird kein Mensch an sich für amerikanisch
halten; wir waren vielmehr gewöhnt, sie als ein kleines graziöses Genre
der Kunst zu betrachten. Wenn sie aber mit allen Blendern der Theaterei
aufgedonnert wird, wie Reinhardt das tut, so ist sie zum mindesten vom
Amerikanismus nicht mehr weit entfernt. Wenn das „Theater der Fünf-
tausend" je als eigener Bau erstehen sollte, würde das wahrscheinlich
eine Pflanzstätte des Amerikanismus geben. Auch die Vernichtung eines
ehrwürdigen Kunstwerks durch die Filmindustrie. um mit einem berühmten
Dichternamen zu „ziehen", ist amerikanisch, wie überhaupt dem ganzen
Kino vorläufig noch etwas Amerikanisches anhaftet.

Äberall in unserm öffentlichen Leben erblicken wir neben guten Zeichen
auch Zeichen herandrängender Roheit. Vorläufig sind wir noch nicht
so weit, daß unsere Minister im Tingel-Tangel auftreten. Aber den
Weg zu so schönem Ziele haben wir bereits betreten.

Erich Schlaikjer

Die Zukunft der Sozialpolitik

z^-^-er nur ein wenig Sinn für den Zweck hat, dem die Sozialpolitik
H ^dienen soll, wird sich nicht einreden lassen, daß ihres Wirkens
bald genug geschehen sei. Die tzandarbeiter sehn in den Wohltaten,
die sie bisher von ihr empfingen, erst „Abschlagszahlungen"; unter den
Kopsarbeitern gibt es Gruppen, deren besondere soziale Nöte vom Gesetz-
geber noch so gut wie gar nicht beachtet wurden; das Familienleben ist
in weiten Kreisen in voller Auflösung begriffen, ohne daß bisher für die
Mütter und Kinder viel durch die Gesetzgebung getan worden wäre.
 
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