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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

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R., K. H.: Schöpferische Ruhe
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0351

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SCHÖPFERISCHE RUHE

Im Leben jedes Künstlers gibt es einen oder
mehrere Punkte, an denen er plötzlich vor
der Notwendigkeit steht, von vorn anfangen zu
müssen. Das sind die eigentlich fruchtbaren
Momente. In ihnen wird eine Kunst- oder
Lebenserfahrung, die alt und keimlos geworden
ist, abgestoßen, ein Weg, der zu Ende gegangen
ist, verlassen, ein Werk, das getan ist, beiseit
gestellt. Es kommt alles darauf an, diesen Mo-
ment zu erkennen; man glaube nicht, daß das
sehr leicht ist; es erfordert Demut und eine
treue Werkgesinnung, es verlangt Selbstbesin-
nung und vor allem — das können die wenigsten
— sich Zeit lassen, sich selbst behorchen, um den
neuen Anstoß mit voller Stärke zu verspüren.
Es verlangt das Erlebnis der schöpferischen
Pause. Nicht jede Pause zwischen Werk und
Werk ist schöpferisch; jeder unlustige, jeder
erregte Abbruch ist nur Ausdruck einer inneren
Unsicherheit; er sagt nichts weiter aus, als daß
das, was vorher begonnen wurde, falsch in
des Wortes allgemeinstem und einfachstem
Sinn gewesen ist. Die schöpferische Pause
aber zeigt ein neues Erlebnis, besser: eine neue

Erlebensfähigkeit an, ohne die alte zu degra-
dieren. Sie ist voller Geheimnisse, voller Vor-
züge und Aufbrüche wie die unvergleichliche
Stunde zwischen Mitternacht und Morgen, die
Stunde der tiefsten Ruhe zwischen Abschluß
und Vollendung und neuem Anfang und Beginn.
Für den wahren Künstler ist auch die Ruhe,
das Nicht-Tun, schöpferisch. Wir haben zuletzt
an Corinth das große Beispiel der schöpferi-
schen Pause gehabt, zwischen seinem „mitt-
leren" und seinem „Spätstil", der die großen
Wunder der Walchenseelandschaften bescherte.
Der Dilettant jeder Sorte wird gern bereit sein,
jedes Unvermögen zum Werk, jede Faulheit,
als schöpferische Notwendigkeit auszugeben;
man glaube ihm nicht. Die schöpferische Pause
als Punkt des Innehaltens, als Bewußtwerden
des Weges und des Zieles ist nur zwischen
höchsten schöpferischen Leistungen möglich.
Denn gerade das kennzeichnet sie, daß sie zwar
Ruhe, aber nicht Entspannung bedeutet; es ist
eine aktive Ruhe, eine Spannung des Nicht-
Tuns, deren Kapazität nicht geringer zu sein
braucht als die der Spannung des Tuns. k. h. r.

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